„Ich war wie Moses, der das Meer teilt“

Aussteiger aus der rechtsextremen Szene berichtet

„Ich hatte andere Möglichkeiten, aber ich wollte Nazi werden.“ Klar und deutlich waren die Worte, die der „Ex-Nazi“ Christian E. Weißgerber an seine jungen ZuhörerInnen richtete. Eingeladen hatten ihn SchülerInnen der Q1 der Euregio Gesamtschule. Sein Vortrag war der Abschluss einer Veranstaltungsreihe im Rahmen der Internationalen Wochen gegen Rassismus. Unterstützt und finanziert wurde die Veranstaltung vom Kommunalen Integrationszentrum des Kreises Steinfurt, im Rahmen des vom BMFSFJ geförderten Bundesprogramms „Demokratie leben!“.

Von Anfang an betonte Weißgerber, dass persönliche Entscheidungen das Handeln jedes Einzelnen prägen, für das er oder sie die Verantwortung übernehmen müsse. Gleichwohl gebe es unterschiedliche Voraussetzungen für politische Entscheidungen. Weißgerber berichtet darüber, unter welchen Bedingungen er seine Entscheidungen traf.

1989 im thüringischen Eisenach geboren, erlebt er seine Heimatstadt schnell als Zentrum deutscher Hochkultur. Die Wirkungsstätte Luthers und Bachs zieht Touristen aus aller Welt an, und im jungen Weißgerber reift die Vorstellung, dass „die Deutschen ein ziemlich geniales Volk“ sein müssen. Weißgerbers Familie ist sozialisiert im Antifaschismus, Nazis gibt es im Arbeiter- und Bauernstaat DDR offiziell nicht. Er erinnert sich daran, dass „die Raumtemperatur um zwei Grad gefallen ist, wenn zu Hause vom Nationalsozialismus die Rede war“. Die Erwachsenen in seiner Umgebung pflegen Deutungsmuster der Verdrängung: „Das ist lange her! Wir haben ja keine Schuld!“ Auf der anderen Seite werden Hitlers Errungenschaften (Autobahn, Vollbeschäftigung) hinter vorgehaltener Hand gewürdigt. Dem jungen Weißgerber begegnen „die Nazis“ als Faszinosum, als sympathische „Monster“.

Sein Einstieg in die Neonazi-Szene verläuft klassisch über die Musik. Er hört gerne Metal, aber auch Rap; Genres, die nicht im Verdacht stehen, nazistisch zu sein. Wenn er sich abends mit seinen Freunden trifft, laufen aber nicht nur Eminem und Metallica, sondern irgendwann auch die Bösen Onkelz und später Landser. Die Radikalisierung erfolgt schleichend. Prägend ist der Kontakt zu Stefan: Der ist 18, hat ein Auto, lange Haare, ist eloquent, witzig – und ein bekennender Rechtsextremer. Stefan widerlegt das Stereotyp des Neonazis und beeindruckt den 14jährigen Weißgerber mit seiner Offenheit: „Lass‘ uns darüber reden, du kannst mich alles fragen.“ Weißgerber räumt klar mit dem Vorurteil des glatzköpfigen Schlägers mit Springerstiefeln auf: „Rechtsextreme haben Bildung, sie haben eine rechtsextreme Bildung“; er berichtet von stundenlangen Gesprächen über Rassentheorien, Nietzsche und die deutsche Geschichte.

Diese deutsche Geschichte und seine persönliche Verwurzelung in ihr haben es ihm angetan. Deutsch sein, heißt für ihn: ehrlich, diszipliniert, mit einer gesunden Härte gegen sich selbst ausgestattet zu sein. Warum sollte man also kein Patriot sein? In der Schule beginnt er seine Zweifel an der „offiziellen“ Geschichtserzählung zu äußern. „Warum reden wir drei Wochen über den Holocaust, aber nur 10 Minuten über die alliierten Bomben auf Dresden?“ Seine Lehrer können mit diesem Geschichtsrevisionismus nicht umgehen, Weißgerber fühlt sich bestätigt und bestärkt, die Wahrheit zu kennen. Im Kosmos „Schule“, einem humanistischen Gymnasium, zählt er sich schon zur Elite, zur Bildungs-Elite. Als intelligenter Schüler ist er in einer Klasse für begabte Schüler zugewiesen. Ein Elitebewusstsein sei keine schlechte Voraussetzung für den Rechtsextremismus, für die Vorstellung von einer (white) supremacy. Das konkrete Machterlebnis sei hinzugekommen, er habe es genossen, als Neonazi an der Schule berüchtigt und gefürchtet zu sein: „Auf dem Flur war ich wie Moses, der das Meer teilte.“

Schon während der Schulzeit ist Weißgerber politisch aktiv, er gründet den „Pakt Volkstreuer Jugend“ und engagiert sich später bei den Autonomen Nationalisten. Sein rhetorisches Talent und sein Engagement führen ihn zu Aufmärschen und Treffen in ganz Europa. Er ist kein Mitläufer, sondern aktiver Anführer und Organisator. Fotos zeigen einen schwarz gekleideten jungen Mann, der ebenso als Linker gelten könnte. Weißgerber unterstreicht die Vielfalt der rechtsextremen Szene und betont, dass er eher Nationalist als Nazi war. Er habe Migranten in Deutschland eher als Opfer politischer Strippenzieher gesehen, die sie in ein falsches Land geführt hätten. Etwas Gutes zu tun und gegen böse Mächte zu kämpfen, die die Welt regieren und das deutsche Volk gefährden, das sei ein starkes Motiv gewesen.

Am Ende kommt natürlich die Frage: „Warum sind Sie ausgestiegen?“ Er sei enttäuscht und desillusioniert gewesen, weil die Mehrheit der Menschen nicht an einer „Revolution“ mitwirken wollte. Vor allem aber sei ihm nach und nach bewusst geworden, dass Vorstellungen wie der Antisemitismus unsere komplexe Welt nur sehr verkürzt erklären; dass sie dumm sind und dass er selbst dumm war.

„Einzusehen, dass man dumm war, ist schwer. Es ist wichtig zu verhindern, dass Menschen rechtsextrem werden, denn nur wenige steigen so aus wie ich.“ Weißgerber, der seinen Rechtsextremismus sehr sachlich und analytisch seziert, wandte sich am Ende persönlich an die SchülerInnen mit der Aufforderung, die Gesellschaft aktiv mitzugestalten. Das sei anstrengend und manchmal nervig. Aber „wenn ihr es nicht tut, tun es andere für euch!“ Jede und jeder sei verantwortlich für das, was er oder sie mache. Und: „Ihr seid verantwortlich für das, was ihr nicht macht.“

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